Das Bundesarbeitsgericht hat jetzt die Begründung für die Zulassung der Revision auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Berliner Kassiererin „Emmely“ veröffentlicht. Danach dürften alle Hoffnungen, das Bundesarbeitsgericht werden jetzt die Verdachtskündigung überdenken, zerplatzen. Das Bundesarbeitsgericht in der Begründung der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde:
„Auf die unter Abschnitt III und IV S. 15 bis 36 der Beschwerdebegründung vom 24. April 2009 und in Abschnitt V bis VIII der Beschwerdebegründung vom 27. April 2009 angesprochenen Rechtsfragen kann die Grundsatzbeschwerde nicht gestützt werden. Diese Rechtsfragen betreffen allein Fragen der Verdachtskündigung. Sie waren nicht entscheidungserheblich.
Das Landesarbeitsgericht hat in seiner Entscheidung betont, dass der Klägerin die Tat nachgewiesen war. Wie der Zweite Senat in seinen Urteilen vom 6. Dezember 2001 (- 2 AZR 496/00 – B II der Gründe, AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 36 = EzA BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 11) sowie 3. Juli 2003 (- 2 AZR 437/02 – zu II 2 e aa der Gründe, AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 38 = EzA KSchG § 1 Verdachtskündigung Nr. 2) ausdrücklich ausgeführt hat, stehen die beiden Kündigungsgründe des Verdachts und des Vorwurfs einer Pflichtwidrigkeit nicht beziehungslos nebeneinander. Wird die Kündigung zunächst nur mit dem Verdacht eines pflichtwidrigen Handelns begründet, steht jedoch nach Überzeugung des Gerichts (beispielsweise – wie hier – aufgrund einer Beweisaufnahme) die Pflichtwidrigkeit fest, ist das Gericht deshalb nicht gehindert, die nachgewiesene Pflichtwidrigkeit als wichtigen Grund anzuerkennen. So ist das Landesarbeitsgericht verfahren. Die mit einer Verdachtskündigung verbundenen Rechtsprobleme haben sich für das Berufungsgericht nicht mehr gestellt. „
Bundesarbeitsgericht, Beschluß vom 28.7.2009, 3 AZN 224/09
Der Nichtzulassungsbeschwerde stattgegeben hat das BAG allerdings aus einem Gesichtspunkt, den die Nichtzulassungsbeschwerde selbst so nicht gesehen hat, nämlich die Frage „von grundsätzlicher Bedeutung“, ob das Landesarbeitsgericht das prozessual widersprüchliche Verhalten der Klägerin hat in der Interessenabwägung berücksichtigen können. Denn der Arbeitgeber kann diesen Gesichtspunkt ja noch nicht bei der Kündigung erkannt und berücksichtigt haben. Das Bundesarbeitsgericht zu dieser Frage:
„Demgegenüber macht die Beschwerde erfolgreich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung geltend.
a) Die Rüge der Klägerin ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer Divergenz, sondern auch unter dem Gesichtspunkt einer grundsätzlichen Bedeutung zu prüfen. Nach § 72a Abs. 3 Satz 2 ArbGG ist zwar das Bundesarbeitsgericht an die in der Nichtzulassungsbeschwerde angegebenen Gründe gebunden. Entscheidend ist aber nicht die Bezeichnung der Beschwerdegründe und deren rechtliche Einordnung durch den Beschwerdeführer, sondern der Inhalt der Beschwerdebegründung. Erfüllen die Darlegungen zur Begründung einer Divergenzbeschwerde zugleich die Voraussetzungen einer Grundsatzbeschwerde, ist die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (BAG 15. Februar 2005 – 9 AZN 892/04 – zu II 2 b cc (1) der Gründe, BAGE 113, 315). Dies ist hier der Fall.
b) Die Klägerin greift im Rahmen ihrer Divergenzbeschwerde die Rechtsfrage auf, ob der für die Wirksamkeit der Kündigung maßgebliche Beurteilungszeitpunkt (= Zugang der Kündigung) es zulässt, späteres Prozessverhalten in die Interessenabwägung einzubeziehen und als mitentscheidend anzusehen. Aus den Ausführungen in der Beschwerdebegründung vom 24. April 2009 ergibt sich, dass die Klägerin diesem Problem eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung beimisst.
c) Die angesprochene Rechtsfrage ist von grundsätzlicher Bedeutung. Ihre Klärung ist von allgemeiner Bedeutung für die Rechtsordnung (dazu BAG 15. Februar 2005 – 9 AZN 982/04 – BAGE 113, 315). Die Rechtsfrage ist auch klärungsfähig und klärungsbedürftig.
aa) Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, wenn die Rechtsfrage höchstrichterlich entschieden ist und dagegen keine neuen beachtlichen Gesichtpunkte vorgebracht werden (vgl. ua. BAG 16. September 1997 – 9 AZN 133/97 – zu II 1 der Gründe, AP ArbGG 1979 § 72a Grundsatz Nr. 54 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 82; 10. Dezember 1997 – 4 AZN 737/97 – zu II 1.2.1 der Gründe, AP ArbGG 1979 § 72a Nr. 40 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 83) oder wenn eine eindeutige Rechtslage vorliegt und deshalb divergierende Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte nicht zu erwarten sind (vgl. ua. BAG 22. April 1987 – 4 AZN 114/87 – AP ArbGG 1979 § 72a Grundsatz Nr. 32; 25. Oktober 1989 – 2 AZN 401/89 – zu I 2 c der Gründe, AP ArbGG 1979 § 72a Grundsatz Nr. 39 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 56).
bb) Nach diesen Maßstäben besteht eine Klärungsbedürftigkeit. Durch die Urteile des Bundesarbeitsgerichts vom 13. Oktober 1977 (- 2 AZR 387/76 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 1 = EzA BetrVG 1972 § 74 Nr. 3), vom 3. Juli 2003 (- 2 AZR 437/02 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 38 = EzA KSchG § 1 Verdachtskündigung Nr. 2) und vom 24. November 2005 (- 2 AZR 39/05 – AP BGB § 626 Nr. 197 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 12) ist die aufgeworfene Rechtsfrage noch nicht abschließend geklärt.
Im Urteil vom 13. Oktober 1977 (- 2 AZR 387/76 – zu III 3 d der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 1 = EzA BetrVG 1972 § 74 Nr. 3) hat das Bundesarbeitsgericht ausgeführt, dass auch Umstände, die nach der Kündigung eingetreten sind, bei der Interessenabwägung eine Rolle spielen können, „wenn sie das frühere Verhalten des Gekündigten in einem anderen Licht erscheinen lassen, dh. ihm ein größeres Gewicht als Kündigungsgrund verleihen“. Diese Voraussetzung kann dann vorliegen, wenn gleichartige Pflichtverstöße nach Beginn des Kündigungsschutzprozesses auftreten. Hierdurch kann eine für die Kündigung maßgebliche Wiederholungsgefahr bestätigt werden. In dem mit Urteil vom 13. Oktober 1977 (- 2 AZR 387/76 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 1 = EzA BetrVG 1972 § 74 Nr. 3) entschiedenen Fall hatte die Arbeitgeberin die von ihr ausgesprochene Kündigung darauf gestützt, dass der entlassene Arbeitnehmer durch das Mitverfassen und Verteilen einer ehrverletzenden „Programmschrift“ den Betriebsfrieden gestört habe. Nach Ausspruch der Kündigung waren dann noch Flugblätter verteilt worden, die ähnlich schwerwiegende Angriffe gegen die Beklagte und gegen den Betriebsrat enthielten. Mit der Frage, ob das prozessuale Verhalten bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen ist, hat sich das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 13. Oktober 1977 (- 2 AZR 387/76 – aaO) nicht auseinandergesetzt. Die – wenn auch unseriöse – Rechtsverteidigung im Prozess ist von der Wiederholung eines gleichartigen, für die Kündigung maßgeblichen Pflichtverstoßes zu unterscheiden.
Auch in den Urteilen vom 3. Juli 2003 (- 2 AZR 437/02 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 38 = EzA KSchG § 1 Verdachtskündigung Nr. 2) und vom 24. November 2005 (- 2 AZR 39/05 – AP BGB § 626 Nr. 197 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 12) ist nicht problematisiert worden, ob das prozessuale Verteidigungsverhalten des gekündigten Arbeitnehmers bei der Interessenabwägung berücksichtigt werden kann.
cc) Die klärungsbedürftige Rechtsfrage ist nach den Ausführungen im Berufungsurteil entscheidungserheblich. Das Landesarbeitsgericht hat die Einlassungen der Klägerin im Prozess als wesentlichen Gesichtspunkt in die Interessenabwägung einbezogen. Es ist nicht auszuschließen, dass bei Nichtberücksichtigung dieses Umstandes die Interessenabwägung anders ausgefallen wäre.“
Allerdings wird das Bundesarbeitsgericht in der Revision, die jetzt zugelassen ist, auch die Interessenabwägung insoweit überprüfen, auch ob tatsächlich im Einzelhandel bei Vermögensdelikten ein „Signal“ im Sinne einer Abschreckung gesetzt werden darf. Hier könnte sich eine Abkehr wie bei der Arbeitnehmerhaftung andeuten. Hier wie dort sind diese Abgrenzungen durch die Entwicklung der Berufe überholt. Die meisten Arbeitnehmer haben bei ihrer Arbeit Vermögensinteressen des Arbeitgebers zu wahren, ob als Kassierer, Pilot oder angestellter Steuerberater.
Quelle: Bundesarbeitsgericht, Beschluß vom 28.7.2009, 3 AZN 224/09
Michael W. Felser
Rechtsanwalt
Felser Rechtsanwälte und Fachanwälte