meint ein zweitinstanzliches Gericht jedenfalls für das Arbeitsrecht, wo die Abmahnung häufig die gelbe Karte ist, die die Kündigung vorbereitet. Nach einer atuellen Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein soll die Abmahnung keiner Prüfung durch Arbeitsgericht dahingehend unterliegen, ob die Abmahnung verhältnismäßig ist, also möglicherweise eine übertriebene Reaktion des Arbeitgebers darstellt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz greife im Rahmen der gerichtlichen Abmahnungskontrolle nur insoweit, als Form und Umstände der Abmahnung betroffen sind. Nicht zu prüfen durch ein Arbeitsgericht sei die Frage, ob die Abmahnung als solche eine Überreaktion darstellt (LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 03.06.2008 Aktenzeichen 2 Sa 66/08, erstmals wohl Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 31.07.1986 Aktenzeichen 4 (5) Sa 698/85).
Auch nach Ansicht des LAG Köln (Urteil vom 25.04.2008 – 11 Sa 74/08) kann „der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (…) nur in eng begrenzten Fällen zu der Unwirksamkeit einer Abmahnung führen. (…) Die Frage, welches Gewicht die mit der Abmahnung gerügte Pflichtverletzung hat, ist regelmäßig im Kündigungsschutzverfahren zu prüfen“.
Die rigide Ansicht des LAG Schleswig-Holstein überzeugt nicht. Denn die Nichtberücksichtigung des Übermassverbotes widerspricht nicht nur tragenden Prinzipien unserer Rechtsordnung, sondern auch der ständigen und bestehenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Das Übermassverbot soll den einzelnen vor willkürlicher und übertriebener Massregelung schützen:
„Bei Abmahnungen im Arbeitsverhältnis ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (BAG Urteil vom 7. November 1979 – 5 AZR 962/77 – AP Nr. 3 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße, zu II 2 c der Gründe; BAG Urteil vom 13. November 1991 – 5 AZR 74/91 – AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung). Danach ist die Ausübung eines einseitigen Bestimmungsrechts unzulässig, wenn sie der Gegenseite unverhältnismäßig große Nachteile zufügt und andere weniger schwerwiegende Maßnahmen möglich gewesen wären, die den Interessen des Berechtigten ebensogut Rechnung getragen hätten oder ihm zumindest zumutbar gewesen wären. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird als Übermaßverbot zur Vermeidung schwerwiegender Rechtsfolgen bei nur geringfügigen Rechtsverstößen verstanden (BGH Urteil vom 19. Dezember 1979 – VIII ZR 46/79 – WM 1980, 215, 216). Bei der Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten durch den Arbeitnehmer hat der Arbeitgeber als Gläubiger der Arbeitsleistung zunächst selbst zu entscheiden, ob er ein Fehlverhalten des Arbeitnehmers mißbilligen will und ob er deswegen eine mündliche oder schriftliche Abmahnung erteilen will (BAG Urteil vom 23. April 1986 – 5 AZR 340/85 -, n. v.; Herschel, Anm. zum BAG Urteil vom 22. Februar 1978 – 5 AZR 801/76 – AR-Blattei Betriebsbußen Nr. 9). Eine Abmahnung ist aber nicht allein deswegen unzulässig, weil der Arbeitgeber auch über den erhobenen Vorwurf hinwegsehen könnte (BAG Urteil vom 13. November 1991 – 5 AZR 74/91 – AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung, zu II 2 der Gründe), weil etwa dem Arbeitnehmer ein bewußter Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten fern lag. Die Klägerin ist in einem nicht ganz unerheblichen Umfang ihrer Arbeitspflicht nicht nachgekommen. Die Arbeitgeberin hatte sie zuvor auf die sich abzeichnende Arbeitsvertragsverletzung mehrfach und in angemessener Form hingewiesen. Sie hatte keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß sie auf der Erfüllung des Arbeitsvertrages durch die Klägerin bestehen würde. Es ist der Beklagten dann nicht verwehrt, deutlich zu machen, daß sie es nicht hinnimmt, wenn die Arbeitnehmerin ihre Hinweise auf eine Fehlbeurteilung der Rechtslage übergeht. Schließlich verletzt das Schreiben auch durch seine Form nicht die Ehre der Klägerin. Ein Verstoß gegen das Übermaßverbot läßt sich nicht feststellen.“
BAG, Urteil vom 31.08.1994 Aktenzeichen 7 AZR 893/93
„Die gebotene Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei arbeitsrechtlichen Abmahnungen hat im vorliegenden Fall ebenfalls nicht zur Folge, daß die Abmahnung aus der Personalakte zu entfernen wäre. Die Abmahnung ist nicht unverhältnismäßig im Vergleich zu dem beanstandeten Verhalten des Klägers. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der als Übermaßverbot zur Vermeidung schwerwiegender Rechtsfolgen bei nur geringfügigen Verstößen zu verstehen ist, hat der Arbeitgeber im Rahmen der ihm zustehenden Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) zunächst selbst zu entscheiden, ob er ein Fehlverhalten des Arbeitnehmers mißbilligen will und ob er deswegen eine mündliche oder schriftliche Abmahnung erteilen will (BAG Urteil vom 13. November 1991, a.a.O.).“
BAG, Urteil vom 11.12.2001 – Aktenzeichen 9 AZR 464/00 (Düwell und Schmitz-Scholemann sind auch noch Richter am BAG)
„Bei der Abmahnung handelt es sich um die Ausübung eines arbeitsvertraglichen Gläubigerrechts durch den Arbeitgeber. Als Gläubiger der Arbeitsleistung weist er den Arbeitnehmer als seinen Schuldner auf dessen vertragliche Pflichten hin und macht ihn auf die Verletzung dieser Pflichten aufmerksam. Zugleich fordert er ihn für die Zukunft zu einem vertragstreuen Verhalten auf und kündigt, wenn ihm dies angebracht erscheint, individualrechtliche Konsequenzen für den Fall einer erneuten Pflichtverletzung an (BAG 30. Mai 1996 – 6 AZR 537/95 – aaO mit Rechtsprechungsnachweisen).
Eine solche mißbilligende Äußerung des Arbeitgebers in Form einer Abmahnung ist geeignet, den Arbeitnehmer in seinem beruflichen Fortkommen und seinem Persönlichkeitsrecht zu beeinträchtigen. Deshalb kann der Arbeitnehmer die Beseitigung dieser Beeinträchtigung verlangen, wenn die Abmahnung formell nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist (vgl. BAG 16. November 1989 – 6 AZR 64/88 – BAGE 63, 240), unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält (BAG 27. November 1985 – 5 AZR 101/84 – aaO), auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens des Arbeitnehmers beruht (BAG 30. Mai 1996 – 6 AZR 537/95 – aaO), dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt (vgl. nur BAG 31. August 1994 – 7 AZR 893/93 – AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 98 = EzA BGB § 611 Abmahnung Nr. 33) oder kein schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers am Verbleib der Abmahnung in der Personalakte mehr besteht (vgl. BAG 30. Mai 1996 – 6 AZR 537/95 – aaO mwN zur Rechtsprechung des BAG).“
BAG, Urteil vom 22.02.2001 – Aktenzeichen 6 AZR 398/99
Im hohen Norden müssen Arbeitnehmer aber damit rechnen, dass Abmahnung auch wegen Nichtigkeiten in der Personalakte verbleiben, wenn es dem Chef passt, weil das Landesarbeitsgericht Rechtsschutz versagt. Das soll wohl in erster Linie die Gerichte entlasten. Vorgesetze können also in Schleswig-Holstein die Personalakte leichter als anderswo mit Abmahnungen würzen. Das hat leider auch Auswirkungen für die Karriere, was das LAG in Kiel wohl übersieht. Denn auch wenn der kleinliche Vorgesetze vielleicht schon längst das Unternehmen verlassen hat, bleiben die Vorwürfe in der Akte. Im Kündigungsschutzprozess allerdings gilt auch dort, dass das Gewicht der Vorwürfe für eine Kündigung ausreichen muss. Da endet dann die ungleiche Bewertung von Pflichtverstössen im Arbeitsverhältnis.
Michael W. Felser
Rechtsanwalt
Felser Rechtsanwälte und Fachanwälte