Wir in Deutschland glauben bekanntlich, wir hätten ein vorbildliches Arbeitsrecht. Manche, meistens aus ureigenen Interesse, halten es sogar für eine Einstellungsbremse und Standortnachteil im internationalen Wettbewerb. Im krassen Gegensatz zu diesem Geklapper aber steht das deutsche Arbeitsrecht in Europa auf dem Prüfstand, immer öfter wegen Verstössen gegen EU-Richtlinien, die den Mindeststandard und den Kompromiß zwischen den reichen EU-Nationen und den ärmeren Regionen darstellen. Erneut zeigt der Schlußantrag des Generalanwalts, dass wir in Deutschland keineswegs vorneweg laufen, was Arbeitnehmerschutz angeht.
Im Gegenteil ist kaum ein Land so oft auf dem Sünderbänkchen des Europäischen Gerichtshofs zu finden wie Deutschland. Voraussichtlich wird der EuGH im deutschen Kündigungsrecht auch die Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer kippen, weil bei Arbeitnehmern nach deutschem Kündigungsrecht nicht nur die „Lehrjahre“ sondern auch die Jahre bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nicht bei der Berechnung der Kündigungsfrist mitzählen. Das führt dazu, dass in den ersten Jahren nach der Ausbildung kein „Besitzstand“ bei der Dauer der Kündigungsfrist aufgebaut werden kann. Das kritisierte gestern der Generalanwalt Yves Bott vor dem EuGH, der darin einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 der EU-Richtlinie 2000/78 (Verbot der Altersdiskriminierung) sieht:
“ Ich werde sodann ausführen, dass die Richtlinie meines Erachtens dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, nach der die Beschäftigungszeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs des Arbeitnehmers liegen, bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer, die ihrerseits zur Feststellung der vom Arbeitgeber einzuhaltenden Kündigungsfrist dient, nicht berücksichtigt werden.“
EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts in Sachen Kücüdeveci (RS C 555/07) vom 7.7.2009
Worum geht es:
§ 622 („Kündigungsfristen bei Arbeitsverhältnissen“) des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) lautet:
„(1) Das Arbeitsverhältnis eines Arbeiters oder eines Angestellten (Arbeitnehmers) kann mit einer Frist von vier Wochen zum Fünfzehnten oder zum Ende eines Kalendermonats gekündigt werden.
(2) Für eine Kündigung durch den Arbeitgeber beträgt die Kündigungsfrist, wenn das Arbeitsverhältnis in dem Betrieb oder Unternehmen
1. zwei Jahre bestanden hat, einen Monat zum Ende eines Kalendermonats,
2. fünf Jahre bestanden hat, zwei Monate zum Ende eines Kalendermonats,
3. acht Jahre bestanden hat, drei Monate zum Ende eines Kalendermonats,
4. zehn Jahre bestanden hat, vier Monate zum Ende eines Kalendermonats,
…
Bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer werden Zeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs des Arbeitnehmers liegen, nicht berücksichtigt.“
Der letzte Satz führt dazu, dass jüngere Arbeitnehmer trotz längerer Betriebszugehörigkeit immer noch mit kurzer Kündigungsfrist gekündigt werden können, so als ab sie gerade erst beim Arbeitgeber angefangen hätten.
Die EU-Richtlinie 2000/78 verbietet aber eine Diskriminierung wegen des Alters (wozu auch das „jüngersein“ gehört).
Deshalb hat der Generalanwalt beantragt, dass der EuGH § 622 BGB beanstandet und dessen Anwendung – insoweit – ausschliessen soll. Der EuGH folgt in der Regel dem Antrag des Generalanwalts.
Jeder Anwalt, der zur Zeit jüngere Arbeitnehmer vor dem Arbeitsgericht vertritt, ist gut beraten, diesen Gesichtspunkt anzusprechen, in Vergleichsverhandlungen einzubringen oder den Rechtsstreit aussetzen zu lassen.
Volltext der Schlussanträge des Generalanwalts vom 7.7.2009 in Sachen Kücüdeveci (RS C 555/07):
eugh_rs_c-555_07_07072009_kuendigungsfrist_altersdiskriminierung.pdf
Michael W. Felser
Rechtsanwalt
Felser Rechtsanwälte und Fachanwälte