Mehrere Gerichte verschiedener Gerichtsbarkeiten (Arbeitsgerichtsbarkeit, Sozialgerichtsbarkeit und Finanzgerichtsbarkeit) haben sich in aktuellen Urteilen mit der Frage befasst, ob Interviewer, die von Marktforschungsinstituten und Meinungsforschungsinstituten beschäftigt werden, Selbständige sind oder Scheinselbständige bzw. Arbeitnehmer. Der Trend geht dahin, dass Telefoninterviewer als Arbeitnehmer anzusehen sind.
Telefoninterviewer sind trotz „freiem-Mitarbeiter-Vertrag“ sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer (= Scheinselbständige), entschied das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 02.02.2006 Aktenzeichen L 16 KR 253/04 und erkannte auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Dabei half insbesondere nicht, dass die Parteien in der Präambel ausdrücklich deutlich gemacht hatten, dass sie eine selbständige Tätigkeit wollen (wir berichteten dazu schon). Das beurteilte das Bundessozialgericht auch schon mal anders: Ausgangspunkt der Prüfung ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl Urteil vom 24.1.2007, B 12 KR 31/06 R, SozR 4-2400 § 7 Nr 7 RdNr 17; Urteil vom 25.1.2006, B 12 KR 30/04 R, Die Beiträge, Beil 2006, 149; jeweils mwN) zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt und sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Bei einer Würdigung des Gesamtbildes der Tätigkeit ist davon auszugehen, dass dem im Vertrag dokumentierten Willen der Vertragsparteien, kein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zu wollen, jedenfalls dann indizielle Bedeutung zukommt, wenn dieser dem festgestellten sonstigen tatsächlichen Verhältnis nicht offensichtlich widerspricht und er durch weitere Aspekte gestützt wird (so ausdrücklich BSG vom 28.05.2008 – B 12 KR 13/07 R „Flugzeugführer“; Bestätigung von BSG vom 13.7.1978 – 12 RK 14/78, SozR 2200 § 1227 RVO Nr 17).
Allerdings sagt das BSG im Flugzeugführerurteil auch: „Eine im Widerspruch zu ursprünglich getroffenen Vereinbarungen stehende tatsächliche Beziehung und die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung geht aber der formellen Vereinbarung regelmäßig vor. In diesem Sinne gilt, dass die tatsächlichen Verhältnisse den Ausschlag geben, wenn sie von den Vereinbarungen abweichen ( vgl Urteil vom 24.1.2007, aaO, RdNr 17, mwN ). Maßgeblich ist die Rechtsbeziehung danach so, wie sie praktiziert wird, und die praktizierte Beziehung so, wie sie rechtlich zulässig ist.“
Das Bundessozialgericht hatte Telefoninterviewer 1974 noch als Selbständige angesehen, worauf das Landessozialgericht auch hinweist, zwar anders gesehen, aber: alles eine „Frage des Einzelfalls“, so das Landessozialgericht (wir berichteten).
Telefoninterviewer im Bereich der Marktforschung und Meinungsforschung sind als Arbeitnehmer anzusehen, meinte auch das Finanzgericht Köln (FG Köln, Urteil vom 06.12.2006 Aktenzeichen 11 K 5825/04 – Juracity berichtete) und wurde darin bestätigt durch den Bundesfinanzhof (BFH, Urteil vom 29.05.2008 – Aktenzeichen VI R 11/07). Dieser beschreibt das Problem treffend:
„Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BFH, dass der Arbeitnehmerbegriff sich nicht durch Aufzählung feststehender Merkmale abschließend bestimmen lässt. Das Gesetz bedient sich nicht eines tatbestandlich scharf umrissenen Begriffs. Es handelt sich vielmehr um einen offenen Typusbegriff, der nur durch eine größere und unbestimmte Zahl von Merkmalen beschrieben werden kann. Die Frage, ob jemand eine Tätigkeit selbständig oder nichtselbständig ausübt, ist deshalb anhand einer Vielzahl in Betracht kommender Merkmale nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen. Hierzu hat der erkennende Senat in seinem Urteil in BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661 zahlreiche Kriterien (Indizien) beispielhaft aufgeführt, die für die bezeichnete Abgrenzung Bedeutung haben können. Diese Merkmale sind im konkreten Einzelfall jeweils zu gewichten und gegeneinander abzuwägen, eine Aufgabe, die in erster Linie den Finanzgerichten als Tatsacheninstanz obliegt. Die im Wesentlichen auf tatrichterlichem Gebiet liegende Beurteilung ist revisionsrechtlich nur begrenzt überprüfbar (BFH-Beschlüsse vom 9. September 2003 VI B 53/03, BFH/NV 2004, 42; vom 9. November 2004 VI B 150/03, BFH/NV 2005, 347; vom 16. November 2006 VI B 74/06, BFH/NV 2007, 235; BFH-Urteil vom 7. November 2006 VI R 81/02, BFH/NV 2007, 426; BFH-Urteil in BFHE 218, 233, jeweils m.w.N.).“
BFH, Urteil vom 29.05.2008 – Aktenzeichen VI R 11/07
Entscheidend ist also, was man daraus macht, also wie die Arbeitsbeziehung vertraglich geregelt und schliesslich durchgeführt wird.
Die Begründung des BFH lässt aber aber sogar darauf schliessen, dass zu spät – erst beim BFH – neue Tatsachen vorgetragen worden sind und der BFH deswegen gar nicht anders entscheiden konnte.
Nach Ansicht des Landesarbeitsgericht Hamm (LAG Hamm vom 03.04.2007 – Aktenzeichen 19 Sa 2003/06) sind Telefoninterviewer Arbeitnehmer, wenn sie für die Interviews die Software des Instituts nach vorgegebenen Regeln in dessen Betriebsräumen nutzen, die Aufträge in Teilen gemeinsam mit anderen abarbeiten und mit silent audits überwacht werden.
Auch hier spricht einiges dafür, dass die Beklagte anders hätte vortragen können, denn das LAG Hamm schreibt: „Als Indiz für die Arbeitnehmereigenschaft ist schließlich hier die Tatsache zu berücksichtigen, dass die Klägerin bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten Urlaub beantragt hat und dieser Urlaub auch bewilligt und vergütet worden ist. Dass die Beklagte die Klägerin als arbeitnehmerähnliche Person im Sinne des § 2 Abs. 2 BUrlG angesehen hat, ergibt sich aus dem Vorbringen der Beklagten nicht.“
Michael W. Felser
Rechtsanwalt
Felser Rechtsanwälte und Fachanwälte
U.a. mit dem Urteil des BFH beschäftigt sich ein Beitrag in der „Allgemeinen Hotel- und Gastronomie-Zeitung“ Ausgabe 2008/40 zum Thema Scheinselbständigkeit (mit Interviewzitaten von mir)