Bahnstreik verständlich bedeutet, dass an dieser Stelle die rechtlichen Probleme einmal näher erläutert werden. Ob das Anliegen verständlich ist, ist umstritten. Neben dem Streit um die Tarifforderungen selbst und die Friedenspflicht (JuracityBlog berichtete) und dem Streit um die Zulässigkeit des Schreibens der Bahn an alle Mitarbeiter: Stichwort Auskunftspflicht über Gewerkschaftsmitgliedschaft (JuracityBlog berichtete) ist eine Kernfrage, ob die GdL überhaupt noch streiken darf, nachdem die Gewerkschaften transnet und GDBA bereits einen Tarifvertrag für alle Bahnmitarbeiter, also auch die Lokführer, abgeschlossen haben. Man erinnert sich dunkel an die Ärzte, die einen eigenen Tarifvertrag wollten und an die Piloten und das Kabinenpersonal (UFO), die das auch alle erreicht haben. Warum also nicht auch die Lokführer?
Die GdL hat 2003 schon einmal versucht, einen eigenen Tarifvertrag durchzusetzen, war damit aber, wie beim ersten Versuch 2007 auch wieder, gescheitert, weil die Tarifforderungen sich mit bestehenden Tarifverträgen überschnitten und damit gegen die Friedenspflicht verstiessen (JuracityBlog berichtete).
Das Hessische Landesarbeitsgericht hat 2003 aber auch entschieden, dass die GdL durchaus einen eigenen Tarifvertrag verlangen könne:
“Es kann nicht festgestellt werden, daß der Spartentarifvertrag, den die Verfügungsbeklagte mit der Verfügungsklägerin zu 1) abschließen und um den sie streiken will, rechtswidrig ist. Die Untersagung eines Streikaufrufs läßt sich insbesondere nicht mit dem sog, Grundsatz der Tarifeinheit begründen. Das Streikrecht der Verfügungsbeklagten ist durch dieses Rechtsprinzip hier nicht eingeschränkt. Dieser Grundsatz dient der Auflösung einer Tarifkonkurrenz oder Tarifpluralität und setzt die Existenz zweier Tarifverträge voraus. Dementsprechend hat der erste Senat des BAG im Urteil vom 26. Oktober 1971 (1 AZR 113/68 – AP Nr. 44 zu. Art 9 GG Arbeitskampf) hinsichtlich der Rechtmäßigkeit eines gewerkschaftlichen Streiks der H3V bei bestehendem Tarifvertrag mit einer anderen Gewerkschaft (DAG) das Interesse der streikenden Gewerkschaft HBV anerkannt, wegen des Tarifabschlusses mit der DAG ihrerseits eine tarifliche Absicherung ihrer Mitglieder zu erreichen. Auch der Vierte Senat betont im Urteil vom 20. März 1991 (4 AZR 455/90 – AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz), es bleibe jeder Koalition, deren Tarifvertrag durch einen speziellen Tarifvertrag einer anderen Koalition verdrängt werde, unbenommen, ebenfalls einen solchen speziellen Tarifvertrag abzuschließen, dafür zu werben und sich entsprechend zu betätigen. Dem kann entnommen werden, daß der Vierte Senat bei von zwei verschiedenen Koalitionen erstrittenen, weitgehend identischen Tarifverträgen keine rechtlichen Bedenken hätte, weil eine Auflösung nach dem Prinzip der Tarifspezialität nicht möglich wäre. Hinzu kommt, daß nach dem Grundsatz der Spezialität, so wie ihn der 4. und 10. Senat verstehen, der Tarifvertrag Anwendung findet, der der sachnähere ist. Das ist der, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten steht. Dies soll der Tarifvertrag sein, der eine umfassende Geltung für alle Betriebe beanspruchen kann (BAG Urteil vom 25. Juli 2001 -10 AZR 599/00 – EzA § 4 TVG Bauindustrie Nr. 111, BAG Urteil vom 5.Sept. 1990 – 4 AZR 59/90 – EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 5). Eine Tarifpluralität läßt sich nach dem Prinzip der Tarifeinheit aber erst auflösen, wenn sich der sachnähere Tarifvertrag bestimmen läßt. Welchen Inhalt ein Tarifvertrag im Rahmen von Arbeitskampfmaßnahmen letztendlich erhält, läßt sich erst nach dem Tarifabschluß bestimmen. Das Prinzip der Tarifeinheit ist jedoch nicht geeignet, Arbeitskämpfe um einen geforderten Tarifvertrag von vornherein zu unterbinden.
Dem steht die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit der Verfügungsbeklagten entgegen. Diese kann durch den Rechtsgrundsatz der Tarifeinheit, den die Rechtsprechung des BAG im Wege richterlicher Lückenfüllung erkannt hat, nicht eingeschränkt werden, weil dieser selbst mit der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Koalitionsfreiheit nicht in Einklang zu bringen ist.
Der Vierte Senat und ihm folgend der Zehnte Senat des BAG vertreten diesen Rechtsgrundsatz in ständiger Rechtsprechung (etwa Urteile vom 20. März 1991 – 4 AZR 455/90 – AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Urteil vom’14. Juni 1989-4 AZR 201/89 – EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr, 4; Urteil vom 26. Jan 1994 – 10 AZR 611/92 – EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 9). Die Fälle der Tarifpluralität seien nach den Regeln der Tarifkonkurrenz zu lösen. Danach soll in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag Anwendung finden, wobei unter mehreren Tarifverträgen nach dem Grundsatz der Spezialität dem sachnäheren Tarifvertrag der Vorzug zu geben sei. Die gleichzeitige Anwendung konkurrierender Tarifverträge im selben Betrieb widerspreche dem Grundsatz der Tarifeinheit.
Dieser Grundsatz habe zwar im Tarifvertragsgesetz keinen Niederschlag gefunden, folge aber aus den übergeordneten Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, Rechtliche und tatsächliche Unzuträglichkeiten, die sich aus einem Nebeneinander von Tarifverträgen in einem Betrieb ergäben, würden dadurch vermieden. Die Anwendung mehrerer Tarifverträge, die von verschiedenen Tarifvertragsparteien abgeschlossen worden seien, in einem Betrieb nebeneinander, müsse zu praktischen, kaum lösbaren Schwierigkeiten führen Das TVG enthalte insoweit eine Regelungslücke, die nach dem allgemein anerkannten Rechtsprinzip des Grundsatzes der Tarifeinheit zu lösen sei. In den Kernbereich der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionsfreiheit würde dadurch nicht eingegriffen.
Gegen diesen Grundsatz werden im überwiegenden Schrifttum erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken geäußert, die das Berufungsgericht teilt. So halten, um nur eine Auswahl zu nennen, Schaub (ErfK, 3. Aufl., § 4 TVG Rz. 115; umfassend Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, Diss. 1999, 412 ff., Kempen NZA 2003, 415, 417; Hanau/Kania, Anm. zu BAG AP § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 20 jeweils mit zahlr. weiteren Nachweisen) die Auffassung des 4. Senates zur Auflösung der Tarifpluralität durch das Prinzip der Tarifeinheit wegen Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 3 GG für verfassungswidrig, weil die Koalitionsbetätigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG verletzt sei. Schaub (a.a.O.) meint, an der Rechtsprechung des Vierten Senats werde nicht festgehalten werden können, wenn es zu einer Tarifpluralität zwischen Tarifverträgen einer DGB-Gewerkschaft und einer Fachgewerkschaft komme, weil in die Tarifautonomie eingegriffen werde. Kleinere Gewerkschaften könnten aus dem Betrieb verdrängt werden und nicht mehr Fuß fassen können. Die Normwirkung des § 3 Abs. 1 TVG könne nicht aus Praktikabilitätserwägungen beseitigt werden. Hanau/Kania (a.a.O.), die von nahezu einhelliger Ablehnung der Rechtsmeinung des Vierten Senates in der Literatur sprechen, meinen, Rechtsprinzipien seien lediglich Mittel der Auslegung und Lückenfüllung, die eine Rechtsfortbildung begründen könnten, aber keine eigenständigen Rechtsnormen, die dem geschriebenen Recht vorgingen. Sie sehen das Grundrecht der Koalitionsfreiheit verletzt, weil der kleineren Gewerkschaft letztlich nur die Möglichkeit bleibe, einen Tarifvertrag gemeinsam mit der größeren Gewerkschaft abzuschließen. Im Ergebnis werde durch die Rechtsprechung des BAG für die kleinere Gewerkschaft eine Betätigungsschranke aufgestellt, die mit der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionspluralität nur schwer zu vereinbaren sei. Auch dem Arbeitnehmer werde der Schutz durch den von seiner Gewerkschaft abgeschlossenen Tarifvertrag entzogen. Jacobs (a.a.O., S. 439) führt aus, dem Verhalten einer Gewerkschaft werde durch Verdrängung des von ihr abgeschlossenen Tarifvertrages aus dem Betrieb jeder Sinn genommen. Der Abschluß eines Tarifvertrages sei für sie zwecklos, der Verbleib für Arbeitnehmer in dieser Gewerkschaft, die wissen, daß der Tarifvertrag ihrer Gewerkschaft nicht zur Anwendung komme, sei ohne Nutzen.”
Hessisches Landesarbeitsgericht vom 02.05.2003 – 9 Sa GA 637/03
Das Landesarbeitsgericht in Frankfurt glaubt aber selbst, dass es sich damit gegen das Bundesarbeitsgericht stellt.
Dabei werden aber zwei Prinzipien verwechselt: Die Frage, ob eine Berufsgruppenvereinigung wie die GdL eine Gewerkschaft ist, die Frage, ob sie streiken darf und die Frage, welcher Tarifvertrag am Ende für die Lokführer gilt, sind verschiedene Fragen. Wie das BAG zu UFO und Marburger Bund entschieden hat, können auch kleine Berufsverbände “Gewerkschaften” sein, die für einen eigenen Tarifvertrag streiken dürfen. Ob der dann nachher im Unternehmen, hier bei der Bahn, gilt oder verdrängt wird, ist eine andere Frage:
“Die Tariffähigkeit des Beteiligten zu 2) scheitert schließlich auch nicht etwa am Grundsatz der Tarifeinheit. Nach diesem – im TVG nicht ausdrücklich normierten – Prinzip soll in einem Betrieb für einen bestimmten Regelungsgegenstand stets nur ein Tarifvertrag zur Anwendung kommen. Dabei werden nicht nur Fälle der Tarifkonkurrenz, sondern auch solche der Tarifpluralität dahin gelöst, dass in einem Betrieb nur der speziellere von mehreren Tarifverträgen zur Anwendung kommt ( vgl. grundlegend – allerdings noch unter Berufung auf die vom BVerfG mittlerweile nicht mehr vertretene Kernbereichstheorie – BAG 20. März 1991 – 4 AZR 455/90 – BAGE 67, 330, 336 ff. = AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 20 = EzA § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 7, zu B II 2 der Gründe; vgl. ferner 4. Dezember 2002 – 10 AZR 113/02 – AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 28 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 17, zu II 1 d aa der Gründe mwN; vgl. zu den insb. im Schrifttum geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken Hessisches LAG 2. Mai 2003 – 9 SaGa 636/03 – NZA 2003, 679 und ErfK/Dieterich Art. 9 GG Rn. 82 jeweils mwN). Der von der Rechtsprechung entwickelte Grundsatz der Tarifeinheit steht aber dem Nebeneinander mehrerer konkurrierender Gewerkschaften nicht entgegen. Vielmehr setzt er Tarifpluralität, also den Abschluss mehrerer Tarifverträge über denselben Regelungsgegenstand, gerade voraus. Dementsprechend ist es einer Koalition unbenommen, sich um den Abschluss eines spezielleren, einen konkurrierenden Tarifvertrag verdrängenden Tarifvertrags zu bemühen ( vgl. BAG 20. März 1991- 4 AZR 455/90 – aaO, zu B II 2 b der Gründe ). Tarifpluralität kann dagegen nicht dadurch vermieden werden, dass einer konkurrierenden Arbeitnehmervereinigung die Gewerkschaftseigenschaft abgesprochen wird. Dies wäre mit der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Koalitionsfreiheit unvereinbar.”
BAG vom 14.12.2004 – Aktenzeichen: 1 ABR 51/03
Wenn die GdL einen Lokführertarifvertrag für alle Verkehrsunternehmen verlangen würde und dabei auch die Bahn bestreiken würde, gäbe es gar kein tarifrechtliches Problem mit dem aktuellen Streik. Nur wenn die GdL den verlangten Tarifvertrag von Anfang an auf die Bahn beschränkt, wie es zur Zeit der Fall ist, könnte es von Anfang an ein rechtswidriger Streik sein, nämlich dann, wenn von vorneherein feststehen würde, dass der allgemeinere Tarifvertrag der transnet/GDBA den spezielleren der GdL verdrängen würde. Das ist aber eine Frage, die sich nur im Hauptsacheverfahren vor den Gerichten klären lässt. Das Hessische LAG hat in der oben genannten Entscheidung nämlich auch gesagt:
“Eine Streikmaßnahrne kann im einstweiligen Verfügungsverfahren nur dann untersagt werden, wenn sie eindeutig rechtswidrig ist und dies glaubhaft gemacht ist (LAG Hamm Urteil vom 31, Mai 2000 – 18 Sa 858/00 – AP Nr. 158 zu Art 9 GG Arbeitskarnpf; LAG Schleswig-Holstein Urteil vom 25. November 1999 – 4 Sa 584/99 – LAGE Art 9 GG Arbeitskampf Nr. 68 a). Die beantragte Untersagungsverfügung muß zum Schutz des Rechtes am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (§ 823 Abs, 1 BGB) und zur Abwendung drohender wesentlicher Nachteile geboten und erforderlich sein. Zur Prüfung, ob eine auf Unterlassung eines Arbeitskarnpfs gerichtete einstweilige Verfügung im Sinne des § 940 ZPO zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, hat eine Interessenabwägung stattzufinden, in die sämtliche in Betracht kommenden materiell-rechtlichen und vollstreckungsrechtlichen Erwägungen sowie die wirtschaftlichen Auswirkungen für beide Parteien einzubeziehen sind (LAG Körn Urteil vom 14. Juni 1996 – 4 Sa 177/96 LAGE Art 9 GG Arbeitskampf Nr. 63).”
Hessisches Landesarbeitsgericht vom 02.05.2003 – 9 Sa GA 637/03
Ob jedes Gericht das so sehen würde, oder ob ein anderes Landesarbeitsgericht einen eindeutigen Verstoss gegen das Prinzip der Tarifeinheit und die Rechtsprechung des BAG sehen würde, ist allerdings offen. Es könnte durchaus sein, dass eine erneute einstweilige Verfügung der Bahn deswegen erfolgreich wäre. Mit dieser Frage haben sich das ArbG Mainz und das ArbG Düsseldorf bisher nicht beschäftigten müssen.
Das Prinzip der Tarifeinheit ist aber auch selbst heikel. Was, wenn eine kleine Gewerkschaft einen Tarifvertrag mit einem Unternehmen abgeschlossen hat (z.B. eine “Unabhängigengewerkschaft”), eine grosse Gewerkschaft diesen aber für einen schlechten Scherz hält. Im Bereich Zeitarbeit gibt es ja bereits entsprechende Tarifverträge. Darf die grosse Gewerkschaft dann noch streiken oder wäre das ein Verstoss gegen die Friedenspflicht?
Das Bundesarbeitsgericht wird also seine bisherige Position durchdenken und schärfen müssen.
Es droht nicht nur eine “Balkanisierung” der Tariflandschaft, was übrigens nicht nur den grossen Gewerkschaften noch den Arbeitgebern schmecken dürfte. Auch die Volkswirtschaft würde durch eine extreme Zunahme von Tarifverträgen und Streiks betroffen werden. Denn wenn jede Einzelgruppe einen eigenen Tarifvertrag erhält (und das werden nur diejenigen durchsetzen können, die ihren Arbeitgeber tüchtig unter Druck setzen können), wird es auch mehr Streiks geben. So würden im Krankenhaus mal die Krankenschwestern, mal die Krankenwagenfahrer, mal die Ärzte, mal die Röntgenassistent(inn)en streiken. Motto: Alle haben frei, keiner kann arbeiten, irgendwer streikt immer. Unsinn? Alles schon dagewesen: Abschreckende Beispiele sind England und Italien.
So. Jetzt ist der Beitrag doch länger als geplant geworden. Hoffe, er hat das Problem trotzdem einigermassen verständlich aufbereitet.
Michael W. Felser
Rechtsanwalt
Felser Rechtsanwälte und Fachanwälte