„Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“, dieser Slogan kennzeichnet den Grundsatz der Tarifeinheit. Mit ihm soll sichergestellt werden, dass in einem Unternehmen nicht zahllose Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften miteinander konkurrieren. In Mischbetrieben mit verschiedenen Berufsgruppen und Tätigkeiten kommen u.U. verschiedene Tarifverträge in Betracht (in der Energiebranche bei Energieversorgern (z.B. Verdi oder IGBCE). Dann spricht man von Tarifkonkurrenz. Im Zweifel soll bei Tarifkonkurrenz der speziellere Tarifvertrag gelten. Das führt zum Vorrang des Firmentarifvertrages vor dem Branchentarifvertrag.

Der Grundsatz der Tarifeinheit wird zunehmend kritisch gesehen. Es handelt sich dabei um Richterrecht, dass im Tarifvertragsgesetz keine Stütze findet.

In der Praxis ist der Grundsatz durch die Spartentarifverträge von Ärzten, Piloten und Flugbegleitern bereits durchlöchert.

Die Positionen gehen dabei quer durch die klassischen Lager. Für die Gewerkschaften ist der Grundsatz der Tarifeinheit problematisch, weil durch ihn der Haustarifvertrag als der speziellere Tarifvertrag den Verbands- oder Flächentarifvertrag verdrängt. Wie der aktuelle Bahnstreik zeigt, sind die Gewerkschaften aber auch mit der Abkehr vom Grundsatz nicht glücklich: Berufsgewerkschaften drohen in die bestehenden Strukturen einzubrechen.

Das Abgehen von der Tarifeinheit löst aber auch eine Vielzahl von Problemen aus.

So ist eine Erhöhung der Zahl der Streiks wahrscheinlich, da jede Gewerkschaft eine eigene Tarifauseinandersetzung führt. Ausserdem nimmt die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften zu und damit tendenziell die Härte der Streiks: jede Gewerkschaft will ein „noch besseres“ Ergebnis erzielen. Denn die Mitglieder werden zu der Gewerkschaft beitreten, die die besten Arbeitsbedingungen erstreikt oder aushandelt. Das führt zum Gewerkschafts-Hopping. Für die gleiche Berufsgruppen könnten so unterschiedliche Bedingungen gelten. Die Gewerkschaftsmitglieder müssten zudem die Gewerkschaftsmitgliedschaft offen legen. Es ist ausserdem zu befürchten, dass sich jede Berufsgruppe in eigenen Gewerkschaften organisieren. Nach den Piloten (Cockpit) haben sich auch das andere Bordpersonal in einer eigenen Gewerkschaft (UFO) organisiert. Die Fluglotsen haben ebenfalls eine eigene Gewerkschaft gegründet.

Zur Kritik:

Wendeling-Schröder auf einer Tagung des Arbeitsgerichtsverbandes

Aktuelle Rechtsprechung:

„e) Die Rechtswidrigkeit des Streiks ergibt sich schließlich auch nicht daraus, dass der angestrebte Tarifvertrag nach dem Grundsatz der Tarifeinheit nach seinem Abschluss nicht zur Anwendung käme und daher der hierzu geführte Streik unverhältnismäßig wäre.

Nach dem durch die Rechtsprechung des BAG entwickelten Grundsatz der Tarifeinheit und der Tarifvertragsspezialität wird der sachfernere Tarifvertrag in den Fällen bestehender Tarifkonkurrenz als auch der Tarifpluralität durch den „spezielleren “ Tarifvertrag verdrängt.

Der Grundsatz der Tarifeinheit hat im Tarifvertragsgesetz keinen Niederschlag gefunden, folgt aber aus den übergeordneten Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Rechtliche und tatsächliche Unzuträglichkeiten, die sich aus einem Nebeneinander oder aus der Nichtanwendung von Tarifverträgen in einem Betrieb ergeben, sollen hierdurch vermieden werden. Die Anwendung mehrerer Tarifverträge, die von verschiedenen Tarifvertragsparteien abgeschlossen wurden, in einem Betrieb nebeneinander, muss zu praktischen, kaum lösbaren Schwierigkeiten führen. Rechtsnormen eines Tarifvertrages über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen gelten gemäß § 3 Abs. 2 TVG für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist. Ist dieser aber an zwei Tarifverträge gebunden, muss zumindest insoweit entschieden werden, welchem der Vorrang einzuräumen ist. Eine Abgrenzung zwischen Betriebsnormen und Inhaltsnormen bereitet oft tatsächliche Schwierigkeiten, zumal hier auch Überscheidungen möglich sind. Deshalb ist allein die betriebseinheitliche Anwendung des spezifischen Tarifvertrages unter Anknüpfung an die Tarifbindung des Arbeitgebers geeignet, tatsächliche Schwierigkeiten bei der Anwendung mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb zu vermeiden (BAG, Urt. v. 05.09.1990, NZA 91, 202, 204; BAG, Urt. v. 20.03.91, NZA 91, 736, 738).

Entgegen der von der Verfügungsbeklagten vertretenen Auffassung definiert das BAG hierbei die „Spezialität“ nicht in dem Sinne, dass sich der speziellere Tarifvertrag auf eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern, hier das Fahrpersonal, bezieht, sondern es definiert die „Spezialität“ danach, ob der Tarifvertrag der Situation im Betrieb in räumlicher, betrieblicher, fachlicher und persönlicher Hinsicht am nächsten steht und deshalb den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebes und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten Rechnung trägt (BAG, Urt. 20.03.91, a. a. O.).

Die von dem BAG im Jahre 1957 begründete Rechtsprechung hat vielfache Kritik im Schrifttum erfahren (BAG, Urt. v. 29.03.1957, AP Nr. 4 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Bayreuther, NZA 2006, 642, 643; Bayreuther, BB 2005, 2633; Buchner, BB 2003, 2121; Schaub, RdA 2003, 378, 380). Die geäußerte Kritik weist zum einen auf die fehlende Rechtsgrundlage für das Prinzip der Tarifeinheit, überwiegend jedoch auf eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG hin. Zum einen werde die individuelle positive Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer verletzt und sie würden um die „Früchte ihrer Koalitionsmitgliedschaft“ gebracht, zum anderen sei die kollektive Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft verletzt, deren Tarifvertrag verdrängt werde. Art. 9 Abs. 3 GG schütze nicht nur den Bestand der Koalition an sich, ihre organisatorische Ausgestaltung, sondern auch ihre Betätigung, wozu insbesondere der Abschluss von Tarifverträgen gehöre. Die lange vom BVerfG vertretene Kernbereichsformel der Koalitionsbetätigung sei durch das Gericht vor nunmehr über 10 Jahren aufgegeben worden (BVerfG ZIP 1996, 470; Lindemann/Simon BB 2006, 1852, 1856; Rieble, BB 2003, 1227, 1228).

Unter Hinweis auf die Entscheidungen des BAG, denen sich Zweifel an der Richtigkeit des Grundsatzes der Tarifeinheit entnehmen ließen und die Konstellationen akzeptierten, in denen in einem Betrieb mehrere Tarifverträge zur Geltung kommen, ohne dass das BAG auf eine auflösungsbedürftige Tarifpluralität hingewiesen hätte, wurde eine gänzliche Aufgabe oder doch weitgehende Einschränkung dieses Grundsatzes mit den Entscheidungen des BAG vom 21.03.2007 (Az.: 4 ABR 19/06) erwartet und zum „Mut zum Wechsel“ aufgerufen (Thüsing/von Medem, ZIP 2007, 510 ff.; BAG NZA 1994, 667; BAG NZA 1994, 1038; BAG ZIP 2001, 1555).

Die aktuelle Diskussion im Schrifttum und in der Rechtsprechung zur Aufrechterhaltung oder Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit stellt sich im Ergebnis damit wie folgt dar:

Das BAG hat diesen Grundsatz bislang nicht aufgegeben. Ob die für den 21.03.2007 erwarteten Entscheidungen des 4. Senats eine Abkehr von diesem Grundsatz eingeleitet oder gebracht hätten, kann nicht beantwortet werden, da die Entscheidungen aufgrund des Verfahrensverlaufs entbehrlich wurden. Kritiker dieses Grundsatzes weisen zutreffend darauf hin, dass es Entscheidungen anderer Senate des BAG gibt, die als Beleg für bestehende Zweifel an der Richtigkeit dieses Grundsatzes verstanden werden können. Darüber hinaus gibt es Entscheidungen, die bei Vorliegen anderer Konstellationen das Nebeneinander konkurrierender Tarifverträge, z. B. im Rahmen eines Betriebsübergangs nach § 613 a BGB zulassen oder die durch die Abkehr der bisher geübten Interpretation von dynamischen Bezugnahmeklauseln als Gleichstellungsabrede eine Abwendung von diesem Postulat der Tarifeinheit anzukündigen scheinen (BAG NZA 2006, 607).

Unbestreitbar können die Kritiker der Rechtsprechung zum Grundsatz der Tarifeinheit noch nicht zu allen Problempunkten Lösungsmöglichkeiten anbieten. Beispielhaft wird auf die auch vom Verfügungsbeklagtenvertreter vertretene Ansicht, dass ein dem Arbeitgeber nicht zustehendes Fragerecht nach der Gewerkschaftszugehörigkeit unproblematisch sei, da ja der Arbeitnehmer jedenfalls im Prozess seine Verbandszugehörigkeit zur Durchsetzung seiner Rechte darlegen und beweisen müsse, verwiesen.

Auch die Fälle des ungelösten Spannungsverhältnisses zwischen den Regelungen des § 87 Abs. 1 und § 77 Abs. 3 BetrVG d. h. die Frage, auf welchen Tarifvorrang hier abzustellen ist, bedürfen noch einer befriedigenden Lösung. Auch die Frage des angemessenen Umgangs des Arbeitgebers mit dem zu befürchtenden „Gewerkschafts-Hopping“, d. h. dem möglichen Wechsel der Gewerkschaftszugehörigkeit, um in den Genuss günstiger tarifvertraglicher Regelungen zu kommen, bedürfte einer sachgerechten Beantwortung.

Angesichts des damit als offen zu bezeichnenden Diskussionsprozesses zur Aufrechterhaltung oder zur Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit und der vielfältigen hierzu vertretenen Ansichten stimmt die Kammer – wie bereits in den Entscheidungen zum AZ.: 7 Ga 15/07 und 7 Ga 16/07 – der Auffassung des Verfügungsklägervertreters zu, dass bei der beabsichtigten Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit eine Auffanglösung in Gestalt eines neuen Systems entwickelt werden müsste, wie man bei Zulassung der Tarifpluralität mit den gegebenen rechtlichen wie tatsächlichen Unzuträglichkeiten und den sich hieraus ergebenden Konsequenzen umgehen sollte. Zuzustimmen ist der Auffassung, dass hierzu weiterer Aufklärungs- und Diskussionsbedarf besteht.

Fraglich erscheint jedoch, ob man ohne diese Klärung, was lösbar und hinzunehmen ist, nicht zumindest in Fällen der vorliegenden Art tatsächlich die gewohnten Bahnen verlassen sollte (Bepler, Aktuelle tarifrechtliche Fragen aus Anlass eines BAG-Urteils vom 23.03.2005 in der Festschrift ARGE Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltverein, 791, 802). Gerade der vorliegende Rechtsstreit macht deutlich, dass mit dem Hinweis auf die Tarifeinheit der Verfügungsbeklagten, einer der ältesten Gewerkschaften der Bundesrepublik Deutschland, das ihr aus der Verfassung zustehende Recht des Art. 9 Abs. 3 GG, das nicht nur ihren Bestand und ihre organisatorische Ausgestaltung, sondern auch ihre koalitionsspezifische Betätigungsmöglichkeit garantiert, auf unabsehbare Zeit vorenthalten werden würde. Der Abschluss eines effektiv wirkenden Tarifvertrages könnte ihnen nie gelingen, da er nach gängiger Interpretation stets durch einen einschlägigen Industrietarifvertrag verdrängt würde (Greiner, Der Arbeitskampf der GDL, NZA 2007, 1023, 1025).“

Arbeitsgericht Chemnitz vom 05.10.2007 Aktenzeichen: 7 Ga 26/07

Michael W. Felser
Rechtsanwalt
Felser Rechtsanwälte und Fachanwälte

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